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Nach dem Roman Neu ward mein Tagwerk (1930) der Bielefelderin Elisabet van Randenborgh stellt der Heimatverein Schildesche mit dem Roman Luise. Biegsam wie eine Weide (2023) der Lipperin Elisabeth Schröder einen weiteren Beitrag zur Literatur unserer Region vor. Auch in diesem Werk begegnen wir der versunkenen bäuerlichen Welt Ostwestfalens wieder, und auch hier wird eine Frau die Heldin der Erzählung sein. Zugleich liegen zwischen beiden Werken drei Menschenalter, und das lässt einen Vergleich zwischen beiden interessant erscheinen.
Im Jahre 1979 hat der französische Philosoph Jean-François Lyotard in seinem Werk La Condition postmoderne das Begriffspaar Moderne und Postmoderne eingeführt. Postmoderne bedeutet hier den Abschied von der sogenannten Moderne. Diese Moderne ist geprägt von dem, was Lyotard die „großen Erzählungen“ nennt. Es handelt sich um gleichsam tragende, allgemein akzeptierte Mythen und übergreifende Sinnversprechen, die zum Ende der Moderne ihre Überzeugungskraft verlieren und zerfallen – sei es die Erlösung einer sündigen Menschheit durch Jesus Christus, der Sieg der Arbeiterklasse oder die Unendlichkeit des Fortschritts.
In dem Werk van Randenborghs begegnen wir solchen Sinnversprechen vor allem in der Rolle, die der Religion beigelegt wird, aber auch in der Verklärung einer gleichsam zeitlosen bäuerlichen Welt oder der Beschwörung einer idealisierten Natur. Derlei wird man in dem Werk Elisabeth Schröders vergebens suchen; gegenüber seinem Vorgänger wirkt es gleichsam ernüchtert, jeglicher Enthusiasmus ist ihm fremd. An die Stelle des hohen Fluges, möchte man fast sagen, tritt ein dokumentarischer Eifer; tatsächlich stützt sich der Roman auf ein umfangreiches Quellenstudium. Einen möglichen Einfluss der Wissenschaft könnte man auch in einem weiteren Detail erblicken. Während van Randenborgh eine Empathie an den Tag legt, die ihr erlaubt, den verborgensten Regungen ihrer Mitmenschen auf die Spur zu kommen, enthält sich die jüngere Autorin jeglicher Form von Introspektion; sie beschränkt sich konsequent auf das, was sie sieht. Das erinnert an die wissenschaftliche Methodik des Behaviorismus, für den sinnvolle Aussagen nur aus Sätzen über körperliche Eigenschaften, körperliche Beziehungen und körperliche Vorgänge bestehen können. Bei allen Unterschieden gibt es doch eine elementare Gemeinsamkeit beider Autorinnen: Die Familie bleibt für sie eine selbstverständliche Größe. Sie ist es, die das Gewebe der Erzählung bestimmt, und sie bildet den Boden einer Erfahrung, die über die Familiensaga hinaus zu einem Spiegel unserer selbst wird, deren Leben durch so viele und uns so selten bewusstwerdende Fäden mit der Geschichte unseres Landes verknüpft sind.
Dr. Jürgen Buchmann